Wenn es einen Klassiker der Weinliteratur gibt, dann ist es „The World Atlas of Wine“. Seit 1971 erscheint dieses Standardwerk, das sich dem Anbau und der Erzeugung von Wein auf sechs Kontinenten widmet. Erstmals wurde „Der Weinatlas“ – so der Titel der deutschen Ausgabe – vom englischen Kritiker Hugh Johnson herausgegeben. Seit 2001 publiziert er das großformatige Opus im Verbund mit Jancis Robinson, der weltweit bedeutendsten Weinkritikerin (Männer eingeschlossen).
„The World Atlas of Wine“ wird alle sechs bis acht Jahre neu überarbeitet herausgegeben. Das Buch ist mittlerweile in der 8. Edition angekommen, es erscheint in 14 Sprachen und hat sich bislang fast fünf Millionen mal verkauft. Legendär ist der Weinatlas unter anderem für detailgetreue Landkarten zu zahlreichen Appellationen. Das Werk enthält Hunderte solcher Karten, in denen die wichtigsten Lagen und Erzeuger einer jeweiligen Region markiert sind. „Wein ist Geografie in der Flasche“, sagen die Autoren Johnson und Robinson.
Die aktuelle 8. Edition ist im Herbst 2019 erschienen. Ich habe sie mir neulich als E-Book heruntergeladen. Außerdem steht die 7. Edition aus dem Jahr 2013 in meinem Bücherregal. Beide Bücher besitze ich in englischer Sprache, entsprechend sind die wörtlichen Zitate in diesem Beitrag meine Übersetzungen ins Deutsche.
„The World Atlas of Wine“ ist ein weltweit beachtetes Referenzwerk. Eine vollständig überarbeitete Neuauflage ist somit auch ein Gradmesser und Update über Trends und Veränderungen in der Weinwelt. Insofern war ich wirklich gespannt darauf, wie Spanien in der neuen Ausgabe abschneidet. Erhält es eventuell mehr Platz bzw. Seiten, weil seine Bedeutung im Vergleich zu anderen Weinländern gewachsen ist? Erscheinen im Spanien-Kapitel neue Regionen und Erzeuger? Was sagen die Autoren generell zur Entwicklung des Weinlands Spanien seit der Vorgänger-Ausgabe?
Mit Blick auf diese Fragen habe ich die 2013er- und 2019er-Edition verglichen. Vielleicht ist zu erwähnen, dass ich ein gutes Jahrzehnt in der Verlagsbranche tätig war, bevor ich mit dem Bloggen über Wein begonnen habe. In einem Berliner Verlag war ich als Produktmanager, Redakteur und Autor in viele Buchprozesse eingeweiht. Später habe ich drei Reiseführer zu kulturellen und kulinarischen Themen als Verleger publiziert. Von der Materie Buch verstehe ich etwas, und ich denke, das hilft mir bei der Betrachtung des „The World Atlas of Wine“. Zur Abwechslung gibt es heute von mir also keine Wein-, sondern eine Buchkritik aus spanischer Sicht.
Der Unterschied zwischen Größe und Bedeutung
Mit 967.000 Hektar Rebfläche ist Spanien das größte Weinland der Welt. Die zwei anderen großen Weinländer Europas – Frankreich und Italien – nehmen in dieser Kategorie hinter China den dritten und vierten Rang ein. Weil in Spanien das Klima heißer und trockener ist, die Böden oftmals unfruchtbarer sind und die Reben gezwungenermaßen weitere Abstände in der Bepflanzung haben, sind die Traubenerträge je Hektar niedriger. Betrachten wir die Menge produzierten Weins, so liegt das Land hinter Italien und Frankreich weltweit an dritter Stelle.
Die Größe Spaniens in Bezug auf Rebfläche und Weinproduktion schlägt sich im Aufbau des „The World Atlas of Wine“ nicht nieder. Von insgesamt 416 Seiten kommt Frankreich allein auf 103. Mit gebührendem Abstand folgen Italien (34), USA (33), Deutschland (26), Australien (25) und erst dann Spanien mit 19 Seiten. Dies entspricht exakt der Seitenzahl, die das Land in der Vorgänger-Ausgabe von 2013 innehat.
Dass sich für Spanien bei dieser niedrigen Ausgangslage gar nichts bewegt hat, kommt für mich überraschend: In den vergangenen Jahren habe ich Texte von Jancis Robinson gelesen, in denen sie betont, wie dynamisch und vielfältig Spanien geworden ist, wie viele neue Regionen und Erzeuger ins Scheinwerferlicht treten und wie elegant und individuell die „new-wave Spanish wines“ (O-Ton Robinson) sind. Zu einem jener Artikel führt dieser Link. Aufgrund solcher Lobeshymnen ging ich davon aus, dass das Land in der neuen Ausgabe des „The World Atlas of Wine“ ein paar Seiten mehr erhält.
Insgesamt mutet die Seitengliederung in der Gesamtbetrachtung des Buchs seltsam an: Beispielsweise kommt das winzige deutsche Weingebiet Ahr auf eine Seite, so wie die fünf Appellationen Ribeiro, Ribeira Sacra, Monterrei, Valdeorras und Bierzo zusammen. Zwei weitere Beispiele: Die relativ kleine Nahe wird genauso wie die große und sicher nicht unbedeutende DOCa Rioja auf zwei Seiten behandelt. Und die Pfalz erhält mit drei Seiten ebenso viel Platz wie ganz Katalonien mit insgesamt elf Anbaugebieten. Bei aller ausgeprägten Liebe zum Riesling: Liegt es an meiner „Spanien-Brille“, dass ich hierin eine gewisse Unwucht sehe?
Also alles beim Alten in Spanien?
Man kann diese Frage mit einem „Jein“ beantworten. Die Veränderungen in Spanien sind den zwei Autoren freilich nicht verborgen geblieben. So stellen sie in der Einleitung des Spanien-Kapitels fest, dass „neue Erzeuger, neue Stile, autochthone Rebsorten und wiederentdeckte Regionen überall im Land emportauchen“. Man muss dann allerdings schon sehr genau in die folgenden Texte und Landkarten schauen, um dieses neue Spanien zu finden.
Auf den ersten Blick hat sich wenig getan: Der aktuelle „The World Atlas of Wine“ enthält exakt dieselben Unterkapitel wie die vorige 2013er-Ausgabe. Eigene Unterkapitel bilden: Nordwestspanien; Rías Baixas; Ribera del Duero; Toro & Rueda; Navarra; Rioja; Katalonien (inkl. eine Seite Priorat); Andalusien.
Dass die Gliederung überhaupt nicht verändert oder ergänzt wurde, ist aus meiner Sicht enttäuschend. Ein paar Vorschläge für neue Unterkapitel hätte ich schon gehabt: Ribeira Sacra, Bierzo, Valdeorras, Madrid, Campo de Borja, Jumilla, Teneriffa (oder als Ganzes die Kanarischen Inseln). Betrachtet man die Entwicklungen der letzten Jahre, dann hätten wenigstens ein oder zwei dieser Gebiete es verdient, in einem eigenen Unterkapitel besprochen zu werden.
Auch sind die Texte von 7. und 8. Auflage in weiten Teilen identisch. Zwar fallen in der aktuellen Edition ein paar neue Erzeugernamen wie Rafael Palacios (Valdeorras), Artuke (Rioja), Edetària (Terra Alta), Ponce (Manchuela), Envinate (Almansa), Sedella (Málaga) und Frontonio (Valdejalón). Aber insgesamt ist es mager, was hier überarbeitet wurde.
Bezüglich der dürftigen Überarbeitung der Spanien-Seiten, hier nur ein Beispiel von vielen dieser Art: Das generell schwache Kapitel zu Rías Baixas endet mit folgendem Absatz: „Die dickschalige Albariño-Rebe dominiert hier. Von allen Reben widersteht sie am besten dem Mehltau, der eine andauernde Bedrohung darstellt. Junger Albariño hat eine treue Anhängerschaft. Es wird jedoch auch verstärkt mit Verschnitten, Eiche und bewusst gealterten Weinen experimentiert.“
An diesem Absatz gibt es inhaltlich wenig auszusetzen. Nur, dass er genau so bereits in der 2013er-Ausgabe steht. Vielleicht hätte man 2019 ja darauf eingehen können, was in Rías Baixas aus diesen Experimenten mit dem Holzausbau bzw. Altern der Albariño-Weißweine geworden ist. Spannende Beispiele wie den „Carralcoba Albariño“ von Eulogio Pomares oder den 2010er „La Fillaboa 1898“ oder den 2010er „Selección de Añada“ von Pazo de Señoráns gäbe es diesbezüglich einige.
In den erstklassig gestalteten Landkarten – es sind zwölf im Spanien-Kapitel – tauchen immerhin einige Weingüter neu in der 8. Edition auf: Newcomer wie Fedellos do Couto, Verónica Ortega und Fulcro sowie Etabliertere wie Zarate und Dominio de Atauta sind alles Erzeuger, die ich ebenfalls sehr schätze.
Die meisten inhaltlichen Veränderungen hält die vierseitige Einleitung parat, die einen Überblick zu Spanien gibt. Neu aufgeführt werden hier zum Beispiel Rebsorten und Regionen wie Rufete und Sierra de Salamanca, Prieto Picudo und Tierra de León sowie Bruñal und Arribes. Darüber hinaus findet sich im einleitenden Text erstmalig ein Absatz zur IGP Valdejalón in Aragon und ein kleiner Exkurs zur Sierra de Gredos (wobei in diesem noch nicht einmal wegweisende Erzeuger wie Comando G oder Bernabeleva namentlich erwähnt werden).
Dennoch: Grundlegende Trends, welche die 2010er-Jahre in Spanien charakterisieren, bleiben unerwähnt: Solche Trends wären unter anderem der vermehrte Einsatz von altem Holz bei der Weinbereitung (statt neuen Barriques). Ferner eine frühere Weinlese, die auf Frische im Wein abzielt und weniger auf Kraft und Konzentration. Zudem ein verstärkter Fokus auf die Arbeit im Weinberg und das Terroir im Allgemeinen, anstelle von Kellertechnik. Für mich ist das Ausbleiben dieser Hinweise unverständlich, weil Jancis Robinson mit Spaniens Weinavantgarde bestens vertraut ist und diese Trends natürlich alle kennt. Warum also nicht einfach darüber schreiben?
Fazit: Das Buch ist Top. Der Vergleich zwischen alter und neuer Edition fällt jedoch enttäuschend aus.
„The World Atlas of Wine“ bietet einen einzigartigen Überblick über die Welt des Weins. Besonders die Liebhaber französischen Weins (und wer ist das nicht?) kommen voll auf ihre Kosten. Darüber hinaus enthält das 416 Seiten starke Buch viele grundlegende Informationen: Bei Themen wie die unterschiedliche Bereitung von Massen- und Qualitätsweinen, das Jahr im Weinberg, der Wachstumszyklus der Weinrebe, die Bedeutung von Terroir sowie als neu eingeführtes Kapitel der Klimawandel und dessen Auswirkungen auf den Weinbau vermitteln die Autoren in verständlicher Weise nützliches Wissen.
Das Buch ist des Weiteren äußerst professionell gemacht: Es enthält großartige Fotos, hat ein erstklassiges Design und hervorragend geschriebene Texte. Das E-Book der 8. Ausgabe ist zudem interaktiv aufgebaut und intuitiv zu bedienen. Es macht Spass, sich mit diesem Buch zu beschäftigen und in den Landkarten zu stöbern.
Meine Kritikpunkte sind, dass die Gliederung nicht immer logisch erscheint. Ich hatte das Beispiel schon genannt: Wenn das winzige deutsche Anbaugebiet Ahr so viel Platz erhält wie Bierzo, Valdeorras, Ribeira Sacra, Monterrei und Ribeiro zusammen, dann wirkt das nicht adäquat. Wegen diesem und anderer Beispiele finde ich, dass Spanien im Werk unterrepräsentiert ist. Der Presseabteilung des herausgebenden Verlags Octopus Publishing habe ich diesbezüglich eine E-Mail geschrieben und meine Argumente bzw. Zweifel genannt. Auf meine Anfrage erfolgte bislang keine Reaktion.
Ferner war für mich der Vergleich zwischen 2013er-Ausgabe (7. Edition) und 2019er-Ausgabe (8. Edition) insofern enttäuschend, als dass geschätzte 90 Prozent der Texte quasi identisch sind. Die Gliederung des Spanien-Kapitels (bei anderen Ländern ebenfalls) entspricht sogar zu 100 Prozent jener der Vorgängeredition, obwohl neue Gebiete wie Madrid und die Kanaren seither enorm an Bedeutung zugelegt haben.
Zudem ist die jüngere Dynamik des Weinlands Spanien – wie erwähnt – nur schemenhaft erkennbar. Einzelne Passagen wie „Tonkrüge erleben ein Comeback, und es wird – wie anderswo auch – mit Amphoren, Betoneiern und Ähnlichem experimentiert“ lassen darauf deuten. In einem angemessenen Rahmen werden die Entwicklungen der letzten Dekade allerdings nicht thematisiert. Dies sollte meiner Meinung nach jedoch der Fall sein, wenn ein Referenzwerk wie dieses als „vollständig überarbeitet“ (der Einband spricht von „completely revised“) herausgegeben wird.
„To put it in a nutshell“, wie die Briten gerne sagen: Wer „The World Atlas of Wine“ (bzw. Der Weinatlas, Hallwag Verlag) noch nicht besitzt oder kennt, dem kann ich einen Kauf der neuen 8. Ausgabe wärmstens empfehlen. Das E-Book kostet 39,99 Euro im App Store, das gebundene Buch 38,99 Euro bei Amazon Deutschland. Wer die 7. Edition von 2013 hingegen schon zuhause im Regal stehen hat, kann es dabei belassen und auf die 9. Edition warten.
Hola Thomas
Danke für die Rezension. Ich habe schon lange kein Buch über Wein mehr gekauft. Aber wenn Du einen „Atlas“ oder „Weinführer“ über Spanien schreibst, dann bin ich der erste Käufer.
Gruss aus der Schweiz.
Daniel
Hallo Daniel,
Danke, das ist sehr nett. Jetzt brauche ich nur noch 999 weitere Vorab-Käufer, dann können wir das Spanien-Buch auf den Weg bringen.
Beste Grüße
Thomas
Ab sofort sind nur noch 998 Vorab-Käufer notwendig!
Sehr profunde Bespechung des Wine Atlas, danke für die Fülle an Infos!
Peter