In meiner Esszimmer-Küche beträgt die Temperatur gerade 26,7º C. Willkommen im andalusischen Sommer, der heuer nicht einmal besonders heiß ausfällt. Würde ich den Rotwein, der im Küchenregal steht, jetzt öffnen und direkt trinken, müsste ich mich womöglich übergeben. Warmer Rotwein, und sei er sonst noch so gut, schmeckt nämlich grauenvoll.
Bei einer Degustation, die ich jüngst für elf englische Touristen moderierte, kam das Thema zur Trinktemperatur von Rotweinen wieder auf: Ich präsentierte der Gruppe jeweils vier Weiß- und Rotweine aus spanischen Anbaugebieten. Natürlich musste ich die roten Gewächse bei einer geschätzten Raumtemperatur von um die 24º C im Kühlschrank herunterkühlen. Mit Hilfe eines Weinthermometers achte ich stets penibel darauf, dass ich sie bei 16º C serviere.
„I did not know one can chill red wine.“ – „Ich wusste nicht, dass man Rotwein kühlen kann.“, so der in freundlichem Ton eingebrachte Kommentar eines älteren Herren, als der erste Rotwein an der Reihe war. Er und seine Frau klammerten bereits angestrengt die Hände um ihr Glas, um dessen Inhalt möglichst schnell zu erwärmen. Wer wie ich die Nuancen der englischen Sprache versteht und die Höflichkeit des englischen Bürgertums kennt, der weiß, dass sich eine solche Aussage ins Deutsche sinngemäß als „Wie zum Teufel kommt er dazu uns kühlen Rotwein zu servieren!“ übersetzt.
Ganz ruhig erklärte ich, dass es unvorteilhaft sei Rotwein bei Raumtemperatur, also warm, zu trinken. Warmer Rotwein schmecke zu alkoholisch und die Aromen würden dadurch überdeckt. Nun blickte ich in allseits überraschte Gesichter und aus dem aufgeregten Wortgetümmel, das sich hieraus ergab, schnappte ich das Wort „room temperature“ auf, was ich zum Anlass nahm, meine Belehrung fortzusetzen: Die Regel mit der Zimmertemperatur stamme noch aus dem 19. Jahrhundert, als die Räume insgesamt und vor allem der Speisesaal deutlich kühler temperiert waren als wir es heutzutage gewohnt sind.
Und siehe da: Die Widerworte verstummten und mündeten in ein frohlockendes „Oh, I didn’t know. That’s interesting!“. Ich liebe die Engländer für ihre Kultiviertheit einer rechthaberischen Diskussion galant aus dem Weg zu gehen, denn eigentlich bedeutet diese Aussage: „Es ist mir egal, der Wein ist trotzdem zu kalt.“
Die Weintemperatur nimmt entscheidenden Einfluss auf das Geschmackserlebnis.
Am besten das Rücketikett lesen
Kaum eine Annahme hält sich unter Weinkonsumenten hartnäckiger als jene vom Rotwein, der bei Zimmertemperatur getrunken werden soll. Das ist derart falsch, dass sich die meisten Hersteller seit Jahren genötigt sehen, die empfohlene Trinktemperatur auf den Rücketiketten ihrer Weine anzugeben. Eine kleine Stichprobe gefällig? Auf meinem Schreibtisch, an dem ich grade sitze und schreibe (logisch), stehen mehrere Flaschen. Ich greife mir wahllos eine heraus: Bodegas Ysios empfiehlt für die Reserva 2008 eine Trinktemperatur von 14º bis 17º C. Das ist kühl, nicht warm! Und es handelt sich hier sogar um ein älteres, mittelschweres Gewächs aus dem Rioja und nicht um ein junges Spätburgunder-Leichtgewicht von der Ahr, die nochmals kühler getrunken werden dürfen.
Insgesamt liegen die von Weinerzeugern empfohlenen Temperaturen für Rotweine zu 99% zwischen 14º und 18º C. Junge und leichte Rotweine wie Beaujolais, manche Spätburgunder, viele Trollinger oder eine filigrane Mencia aus Galicien können durchaus so kühl wie ein gehaltvoller Weißwein getrunken werden. Am anderen Ende der Skala, also bei 18º C, stehen die älteren und schwereren Rotweine.
Rotwein zu warm, Weißwein zu kalt
Bevor ich mich für ein Landleben in Spanien entschied, war ich 17 Jahre in Berlin. Mein Studium finanzierte ich unter anderem als Barkeeper. Ich erinnere mich noch gut an einen Sommer in der Marietta Bar in der Stargarder Straße. Berlin kann im Sommer verdammt heiß sein, und es war während einer dieser Hitzewellen als der Barraum extrem aufwärmte und mich schon bei der kleinsten Anstrengung ins Schwitzen brachte.
Die Weißweine kamen wie immer in die Kühlschränke, die mit maximaler Laufkraft brummten und das Flüssige fast gefrieren ließen. Aber keiner von uns kam auch nur annähernd auf die Idee die Rotweine zu kühlen. Sie blieben einfach auf dem Rücktresen stehen. So konnten sich unsere Gäste zwischen eiskaltem Weißwein und brühwarmem Rotwein entscheiden. Zumeist kam bei dieser verlockenden Auswahl eine Caipirinha oder ein Aperol Sour heraus. Ja, kaum vorstellbar, aber Aperol Sour war mal um die Jahrtausendwende einen Sommer lang ein Trendgetränk, wozu ich selbst in einem Interview mit dem Stadtmagazin tip beigetragen habe. Asche auf mein Haupt. Zumindest zeigt diese Anekdote exemplarisch, was praktisch alle Weinexperten betonen: Wir trinken Rotweine zu warm und Weißweine zu kalt.
Sehr kalt bei um die 6º C sollten einzig Schaumweine getrunken werden, da die Kohlensäure in der Lage ist Aromen zu transportieren. Ansonsten liegen die einschlägigen Empfehlungen für Weißweine zumeist bei 8º bis 12º C. Eher kalte 8º C für leichte frische Weißweine, kühle 12º C für gehaltvolle und hocharomatische Weißweine wie zum Beispiel ein Riesling GG, ein Chardonnay aus dem Burgund oder – um bei Spanien zu bleiben – eine im Eichenfass ausgebaute Viura aus dem Rioja. Ein solches Exemplar wäre die Tondonia Blanco Reserva. Dieses Gewächs reift sechs Jahre im Barrique und liegt mindestens weitere sechs Jahre in der Flasche. Einzigartig! Vor ein paar Monaten habe ich den aktuellen Jahrgang 2004 auf diesem Blog besprochen. Die vom Weingut López de Heredia empfohlene Trinktemperatur für diesen Weißwein beträgt 14º bis 16º C, ein Bereich, in dem wir Rotweine trinken. Tränke man die Tondonia Blanco bei Kühlschranktemperatur von um die 6º C, kämen ihre vielschichtigen Aromen nicht zur Geltung. Der Wein würde sich verschlossen und eindimensional und ohne den Tiefgang, den er hat, zeigen. 14º bis 16º C für einen Weißwein sind jedoch eine absolute Ausnahme.
Tondonia Blanco Reserva. Lieber nicht zu kalt trinken.
Der Praxistest
Ich habe mich einem Selbsttest unterzogen, inspiriert von Felix Bodmann und Anja Schröder, die in ihrer Webweinschule empfehlen denselben Rotwein bei 18º bzw. 23º C zu probieren. Also einmal dezent gekühlt bzw. einmal bei Zimmertemperatur.
Für diesen Versuch habe ich die Tinto Crianza 2011 von Garcia de Verdevique ausgesucht. Es handelt sich um eine körperbetonte Cuvée aus Tempranillo und Cabernet Sauvignon mit 15% Vol., gekeltert aus 80 bis 120 Jahre alten Reben, die in über 1300 m Höhe auf Schieferböden in der Sierra de la Contraviesa gedeihen. Ein Tropfen, dessen Jahrgang 2006 u. a. im Noma in Kopenhagen kredenzt wurde. In Deutschland verkauft einzig mein Bekannter Werner Hofer aus Berlin diesen Rotwein in seinem Online-Shop.
Bei 18º C schmeckt die Tinto Crianza 2011 elegant und saftig. Der Wein zeigt eine Sauerkirsch-Frucht und komplexe Aromen (erdig, etwas animalisch, vegetabil). Hinzu kommen eine präsente, gut eingebundene Säure und kräftige wie weiche Tannine. Der Abgang ist anhaltend und animierend. Großartig!
Bei 23º C gehen all die Balance und Komplexität hingegen flöten: Der Wein ätzt bereits so in der Nase, dass ich mir Sorgen um mein Riechorgan mache. Am Gaumen schmeckt er vor allem brandig und alkoholisch und im Abgang wirkt er sehr scharf. Ein schauderhaftes Erlebnis, das ich einzig für diesen Artikel bereit bin auf mich zu nehmen. Wir haben es quasi mit zwei völlig unterschiedlichen Weinen zu tun, und dies allein aufgrund der abweichenden Trinktemperatur von 5º C.
Am nächsten Tag führte ich einen weiteren Test durch, diesmal mit einem Weißwein von Dominio Buenavista aus der Rebe Vijiriega. Ich kenne den 2016er Jahrgang als einen säurebetonten Weißwein, was typisch für die Sorte ist. Außerdem: 12% Vol.; mittelschwerer Körper; eine von gelbem Apfel geprägte Frucht sowie florale Aromen und dezente Bitternoten, die an Mandelschalen erinnern. Diesen Tropfen habe ich zuerst bei Kühlschranktemperaturen von 4º und 6º C und in der Folge bei 8º, 10º, 12º und 14º C probiert.
Bei 4º und 6º C riecht und schmeckt man bis auf die genannten Bitternoten praktisch nichts. Der sehr kalte Wein fließt an der Kehle runter wie Wasser, was in diesem Fall gesünder wäre. Bei 8º C öffnet der Wein bereits sein Bukett und zeigt seine Aromen. Ferner entwickelt er eine griffige Struktur, das heißt, er zeigt sich präsent und druckvoll am Gaumen. Dieser Eindruck steigert sich nochmals bei 10º C, der Wein gefällt mir jetzt richtig gut und hat für mich seinen Höhepunkt erreicht. Bei 12º C Trinktemperatur funktioniert die Vijiriega immer noch prima, aber schon bei 14º C kippt der Weißwein deutlich ins Negative: Der Geruch ist stechend, am Gaumen offenbart sich zu viel Schärfe.
Wir sehen: unterschiedliche Weintemperatur = unterschiedliches Geschmackserlebnis. Um keine Wissenschaft aus dem Thema zu machen, empfehle ich folgende Parameter: Wer seinen Rotwein bei 16º bis 18º C trinkt, fast egal welchen, macht nichts falsch. Ein, zwei Grad mehr oder weniger verunstalten einen Wein nicht, und freilich haben wir alle ein individuelles Geschmacksempfinden. Gleiches würde ich für nahezu alle Weißweine und einer Trinktemperatur von 10º bis 12º C sagen.
Zur Messung der Weintemperatur eignet sich u. a. ein Manschettenthermometer. 23 Grad Zimmertemperatur wie hier in meinem Büro sind für einen Rotwein aber viel zu warm. Deshalb: Ab in den Kühlschrank!
Wie misst man die Weintemperatur? Die Ausstattung für Zuhause
Zur Messung der Weintemperatur stehen verschiedene Werkzeuge parat. Ich verwende unter anderem einen Weinthermometer, den man in die volle Flasche steckt. Meiner markiert auf dem Display sogar die idealen Temperaturbereiche für Rot-, Weiß- und Schaumwein. Ein solcher Thermometer ermöglicht eine exakte Messung, allerdings muss man die Flasche hierzu öffnen und sie muss wie gesagt voll sein.
Deshalb verwende ich ebenfalls einen Manschettenthermometer, den man um den Flaschenbauch klammert. Die Messung hiermit mag zwar nicht ganz hundertprozentig genau sein, jedoch bringt dieses Utensil den Vorteil mit sich, dass man eine Flasche nicht öffnen muss, bzw. dass man auch die Temperatur bei einer bereits geöffneten und nicht mehr vollen Flasche messen kann.