In den Kellern von Haro – ein Besuch bei Muga und Tondonia

Vina Tondonia, Haro, Rioja

Mit 49 gehöre ich zwar nicht zum alten Eisen, aber ganz so viele Träume wie mit Siebzehn habe ich auch nicht mehr. Ein lange gehegter Traum ging kürzlich in Erfüllung: Im Eisenbahnviertel von Haro besuchte ich am selben Tag Viña Tondonia und Bodegas Muga. Für mich ist das, als ob Ostern und Weihnachten zusammenfallen. Im Folgenden erzähle ich Ihnen vom Tag in Haro, der mit Weinen endete, die älter sind als ich.

Das legendäre Eisenbahnviertel von Haro

Zuerst ein wenig Geschichtsunterricht: Die Kleinstadt Haro liegt am Fluss Ebro in Rioja Alta. Im Jahr 1863 erhielt sie einen direkten Eisenbahnanschluss ins achtzig Kilometer entfernte Bilbao. Die baskische Hafenstadt war damals ein bedeutendes Zentrum für Handel, Industrie und den Weintransport in alle Welt.

Bei Bodegas Muga in Haro, Rioja Alta
Bei Bodegas Muga in Haro, Rioja Alta (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Fast zeitgleich vernichtete die Reblaus in Bordeaux die Weinberge. Es kam zu verheerenden Ernteausfällen, welche die Lagerbestände der Händler schrumpfen ließen. Auf der Suche nach einem intakten Weingebiet wurden die französischen Winzer und Händler auf der südlichen Seite der Pyrenäen fündig: Viele ließen sich in Rioja nieder, sie brachten Knowhow bezüglich Weinbereitung mit und errichteten Weinlager.

Haro verfügte dank des neuen Bahnhofs über eine hervorragende Infrastruktur für den Abtransport von Wein und entwickelte sich so ab den 1860er-Jahren zum Zentrum der Produktion in Rioja. In den folgenden Jahrzehnten ließen sich immer mehr Händler im Eisenbahnviertel von Haro nieder. Ebenso gründeten sich zahlreiche Weingüter, von denen einige sogar über einen eigenen Bahnsteig auf ihrem Gelände verfügten.

Bei einem heutigen Spaziergang durch das „Barrio de la Estacion“ lässt sich der Boom früherer Zeiten allein schon an der direkten Nachbarschaft berühmter Weingüter wie Viña Tondonia, La Rioja Alta, CVNE, Bilbainas und Muga nachvollziehen. Eine derartige Dichte an Tradition und Weltklasse auf einem halben Quadratkilometer findet sich ansonsten wohl nur noch auf der Avenue de Champagne in Epernay. 

Der Eingang zu Viña Tondonia im Eisenbahnviertel von Haro
Der Eingang zu Viña Tondonia, 1877 in Haro gegründet. Der Neubau, ein Besucherpavillon und Verkaufsshop, stammt aus dem Jahr 2002 (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Bodegas Muga und Viña Tondonia im Vergleich

Mein Tag beginnt um 9 Uhr bei Bodegas Muga. Die Eheleute Isaac Muga und Aurora Caño gründeten das Weingut im Jahr 1932, damals in einem Keller in der Altstadt, ehe man 1969 an den Stadtrand ins Eisenbahnviertel umzog. Muga ist nach wie vor in Familienbesitz und wird in dritter Generation geführt.

Ich bin mit Export Manager Jorge Trujillo verabredet, der mich zuerst durch die 25.000 Quadratmeter große Kellerei geleitet. Auf unserm Rundgang sehe ich keinen einzigen Stahltank. Die gesamte Weinbereitung – ganz gleich ob Schaum-, Weiß-, Rosé- oder Rotwein – findet bei Muga in Eichenfässern statt.

Insgesamt stehen und liegen 14.000 Holzfässer in den Muga-Kellern. Darunter befinden sich große, alte Gärtanks, vor allem aber die kleinen 225-l-Barriques, in denen die Weine reifen. Muga setzt hauptsächlich französische Eiche und in geringerem Maße amerikanische und slowenische Eiche ein.

Gärtanks bei Bodegas Muga
Gartänks bei Bodegas Muga. In den Weinkellern findet sich kein einziger Stahltank. Die gesamte Weinbereitung findet in Holz statt (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Das Weingut unterhält sogar eine hauseigene Küferei, die etwa 2000 neue Fässer pro Jahr anfertigt. Dies ist kostspielig, weshalb heutzutage praktisch alle Weingüter auf externe Hersteller zugreifen. Nicht so bei Bodegas Muga, wo die Fassherstellung eine lange Tradition hat: Einer der Küfer, Jesús Azcárate, ist seit über vierzig Jahren im Betrieb. Sein Sohn ist auch schon zehn Jahre dabei, für die Nachfolge ist somit gesorgt.

Warum eine eigene Küferei, wenn der Unterhalt teuer ist?, frage ich. Es gehe zum einen darum die Kontrolle über die Herstellung zu behalten, antwortet Jorge. Muga wählt sogar die Wälder aus, von denen sie die Baumstämme beziehen. Zum anderen können die Muga-Küfer neue Fässer dem Charakter eines Jahrgangs anpassen. Das Lesegut hat jedes Jahr aufgrund von Klima und Witterung eine andere Qualität und Eigenschaft. Je nachdem wie die Trauben ausfallen, kommen Hölzer aus unterschiedlichen Wäldern zum Einsatz. Ebenso kann das Toasten der Fässer den Bedürfnissen eines Jahrgangs angepasst werden.

Unter Toasten versteht man das Anbrennen der Innenwände der Fassdauben. Sie werden über offenem Feuer „getoastet“. Muga verwendet diesbezüglich vier verschiedene Stärkegrade: Manchmal werden die Fassdauben nur leicht getoastet, damit sie einzig elastisch werden und sich biegen lassen. Stärkeres Toasten wirkt sich dagegen auf das Aroma des Weins aus: Je kräftiger das Anbrennen des Holzes ausfällt, umso mehr Geschmack gibt es in Form von Röstaromen ab.

Muga ist nur eins von zwei Weingütern in Haro mit Küferei
In der Küferei von Muga. Hier, Jorge Trujillo mit einer Holztafel, auf der die verschiedenen Toasting-Grade für die Barriquefässer dargestellt sind (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Muga erzeugt nach eigenem Verständnis sowohl Weine im klassischen als auch im modernen Rioja-Stil. Was ist darunter zu verstehen? Ab Mitte der 1980er kam eine Zeit, in der die Finesse und Eleganz der farblich helleren und lange gereiften Rioja-Weine bei Weinliebhabern nicht mehr gefragt war. Die Muga-Familie entschied sich deshalb neue Weine ins Portfolio aufzunehmen, welche einen „moderneren“ Charakter haben. Der Rotwein Torre Muga wäre ein Beispiel.

Eine reifere Frucht und ein kräftigerer Körper charakterisieren den modernen Rioja-Stil, erklärt mir Jorge. Um dies zu erreichen, werden die Trauben etwas später, sprich reifer gelesen. Im Keller findet dann eine längere Maischestandzeit statt, bei welcher der Most mehr Frucht, Farbe und Tannin extrahiert. Zudem erfolgt der Ausbau der Weine zumeist in neuen französischen Barriques, die stärker getoastet sind als es bei den klassischen Rioja-Weinen der Fall ist.

Frisches Eiweiß wird im Keller bei Muga geschlagen
Muga schönt die Weine mit frischem Eiweiß, was der klassischen Weinbereitung in der Rioja entspricht (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Nach der Kellerbegehung stand für mich eine großartige Weinprobe an, von der ich sogleich weiter unten berichte. Zuerst will ich vom Besuch bei Tondonia erzählen, der unmittelbar danach folgte. Hierzu ging ich von Muga gerade einmal hundert Meter die Straße leicht bergauf und schon stand ich im Innenhof bei Tondonia vor dem schicken modernen Neubau der Architektin Zaha Hadid.

Dort treffe ich auf Chris, ein US-amerikanischer Weinimporteur aus Michigan, und auf Elena, welche uns beide die kommenden zwei Stunden durch die Kellerei führt.

Das Weingut heißt eigentlich R. López de Heredia Viña Tondonia. Weil ich schreib- und wortfaul bin – sehen Sie es mir bitte nach – kürze ich einfachheitshalber mit „Tondonia“ ab. Die vollständige Bezeichnung setzt sich zum einem aus dem Namen des Gründers Rafael López de Heredia zusammen. Er stammte aus Chile und kam im Jahr 1870 als Vierzehnjähriger nach Spanien, wo er eine Jesuitenschule besuchen sollte. Er verließ die Schule früh, um in den Krieg zu ziehen. Seine Seite verlor und Rafael gelangte nach Frankreich. Ein paar Jahre später kehrte er nach Spanien zurück, wo er 1877 in Haro sein Weingut ins Leben rief.

Zum anderen ist Viña Tondonia – der zweite Teil des Weingutsnamens – die Bezeichnung einer über hundert Hektar großen Lage am rechten Ebroufer nahe Haro. Die daraus gekelterten Weine sind für das in vierter Familiengeneration betriebene Weingut stil- und identitätsbildend. Der Weinberg wurde von Rafael López de Heredia in den Jahren 1913 und 1914 angelegt.

60.000-Liter-Holztanks bei Vina Tondonia
Diese alten, nach wie vor benutzten Holztanks bei Viña Tondonia fassen jeweils bis zu 60.000 Liter Wein (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Ich möchte an dieser Stelle auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Muga und Tondonia zu sprechen kommen. Der Vergleich wird helfen zu verstehen, warum Tondonia als das Klassischste bzw. Traditionellste aller Weingüter in Haro und Rioja gilt.

Zuerst die Gemeinsamkeiten:

  • Beide Weingüter betreiben eine eigene Küferei, ich hatte bereits erwähnt wie selten dies heutzutage noch ist. Küfer bei Muga und Tondonia ist dagegen ein sicherer Job auf Lebenszeit.
  • Bei beiden kommt ausschließlich Eichenholz bei der Weinbereitung zum Einsatz. Einen Stahltank oder dergleichen sucht man vergebens.
  • Beide Weingüter vergären spontan. Das erscheint logisch, da die alten Gärtanks aus Holz doch über reichlich eigene Hefekulturen verfügen.
  • Beide schönen ihre Weine mit frischem Eiweiß, wie es erstmals im 18. Jahrhundert in der Rioja gemacht wurde und seither Tradition hat.
  • Beide keltern Cuvées aus den klassischen Rioja-Rebsorten: Bei Rotweinen stellt Tempranillo die Hauptsorte, ergänzt um Garnacha, Graciano und/oder Mazuelo. Für die Weißweine kommt Viura als Hauptrebe zum Einsatz, komplementäre Trauben sind Malvasia, Garnacha Blanca und/oder Maturana.
  • Beide Weingüter sind bis heute zu hundert Prozent in Familienbesitz.
Im Keller bei Vina Tondonia
In den unterirdischen Kellern, teils in Kalksteinfelsen geschlagen, lagern 14.000 Barriques, ausschließlich aus amerikanischer Eiche (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Nun zu den Unterschieden:

  • Muga sortiert Barriquefässer, in denen die Weine reifen, spätestens nach sechs Jahren aus, weil sie dann zu wenig Tannin und Aromen an den Wein abgeben. Hingegen verwendet Tondonia mehrheitlich Barriques, die älter als zehn Jahre sind. Für Tondonia geht es vorrangig um die Mikrooxidation während der Weinreife und nicht um eine Aromatisierung. Beschädigte Fässer und Holztanks werden bei Tondonia selten ausrangiert, sondern nach Möglichkeit von den Küfern repariert.
  • Tondonia verwendet nur amerikanische Eiche, wie es bis in die 1970er-Jahre stets in der Rioja üblich war; während Muga verstärkt auf französische Eiche setzt, die in den letzten vierzig Jahren stetig an Popularität zugewinnt.
  • Tondonia brennt die Innenwände der Fassdauben nur leicht an, einzig bis sie elastisch und biegsam werden. Das Toasting fällt also schwächer aus als bei Muga in vielen Fällen und somit auch die Aromatisierung des Weins mittels Holzkontakt.
  • Die Reifezeiten in Barrique und das Flaschenlager sind bei Tondonia deutlich länger als bei Muga. Ein Beispiel: Die Muga Prado Enea Gran Reserva reift je drei Jahre in Barriquefässern und in der Flasche. Bei der Viña Tondonia Gran Reserva sind es sage und schreibe jeweils zehn Jahre.

Im Gegensatz zu Muga hat Tondonia nie etwas an der Weinbereitung verändert. Sie erfolgt laut Weingut nach denselben Prinzipien und Methoden wie anno 1877. Als der klassische Rioja-Stil eine Zeit lang nicht mehr gefragt war (ich hatte es zuvor erwähnt), litt das Weingut, hielt aber trotzdem an seinen Methoden fest. Heute zahlt sich diese „Sturheit“ aus: Tondonia-Weine sind Kult und angesagt wie selten zuvor.

Flaschenlager bei Vina Tondonia, Haro, Rioja Alta.
Bei Viña Tondonia dauert das Flaschenlager mitunter sehr, sehr lange. Die Spinnen freut’s (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Faszinierend sind die unterirdischen Fasskeller bei Viña Tondonia. Der El Calado genannte Keller wurde 1892 von Steinmetzen auf 140 Metern Länge in Fels geschlagen. Ein gigantisches Projekt. Die entnommenen Brocken dienten später zum Bau weiterer Gebäude auf dem Weingut.

Nicht weniger beeindruckend sind die Mikroklimas, die jeder einzelne Raum im Fasskeller aufweist: Jeder Kellerteil hat einen einzigartigen Geruch. Ich bin mir sicher: Würde man Inhaberin María José López de Heredia mit verbundenen Augen in diese Räume bringen, sie würde sie alle am spezifischen Geruch erkennen können.

Außerdem glaube ich, dass die Tondonia-Keller ein klasse Setting für die Verfilmung von Gruselgeschichten darstellen. Generell ist es schon einmal dunkel. Dazu hängen überall Spinnweben herum, und an den Wänden bilden Pilze riesige Flechtenteppiche. „Das ist ja eine ganz eigene Flora und Fauna“ bemerke ich. „Die Spinnen sind unsere Freunde. Sie halten potenzielle Schädlinge wie Käfer fern“, sagt Elena: „Und der Schimmel sorgt für eine konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Wir sind froh darüber.“

Der in Fels gehauene Keller El Calado. Bei Vina Tondonia, Haro, Rioja Alta
Der in Fels gehauene Keller El Calado (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Die Magie gereifter Weine

Vergangenheit und Gegenwart sind im Eisenbahnviertel von Haro untrennbar miteinander verbunden. Ich genieße „das Jetzt“ und atme zugleich mit jedem Zug Geschichte ein. Auch die beiden Tastings bei Muga und Tondonia schlagen eine Brücke vom Hier und Heute in vergangene Jahrzehnte.

Bei Muga verkoste ich mit Jorge Trujillo zuerst die aktuellen Jahrgänge diverser Schaum-, Rosé-, Weiß- und Rotweine. Mit Prado Enea Gran Reserva (Jg. 2014) und Torre Muga (Jg. 2016) sind bereits Wahnsinnsweine darunter, die nicht von ungefähr zu den bekanntesten und besten Gewächsen der Rioja zählen.

Was folgt, ist etwas Besonderes: Die Probe der Jahrgänge 2016, 2009 und 2006 von der Reserva Selección Especial ist bereits hochinteressant. Sie wird nochmals getoppt von den Jahrgängen 1976 und 1970, die mir Jorge von der Muga Gran Reserva kredenzt – ein Wein, der heute nicht mehr unter diesem Namen produziert wird. Jorge merkt an, dass jene zwei Weine aus den 70ern neben roten Trauben wie Tempranillo, Garnacha und Mazuelo auch einen kleinen Anteil der weißen Viura enthalten, was typisch für Rioja-Rotweine aus dieser Zeit ist.

Gran Reserva Jahrgang 1976 und 1970 (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Beide gereifte Weine sind in einem einwandfreien Zustand. Ihre Farbe ist hell, transparent und geht ins Orangerote. Weder weisen sie oxidierte Noten, noch andere unangenehme Düfte auf. Vor allem beeindruckt mich die Frische dieser Gewächse, die wohlgemerkt 45 bzw. 51 Jahre auf dem Buckel haben. Das Tannin ist glatt poliert, die Weine fühlen sich schlank und weich an. Sehr vielseitig ist die Aromatik: Der 1976er hat ätherische Noten, die ich schwer zu beschreiben finde. Aber der Duft ist klasse, und ich rieche lange und gerne am Glas. Der 1970er riecht noch besser und komplexer nach Trockenfrüchten und insgesamt erdigen Aromen wie Waldboden und feuchtem Laub. Der Abgang hat eine großartige Länge.

Jorge serviert Jamón Ibérico und Lomo-Schinken dazu. Was für ein Frühstück morgens kurz nach Elf. Wir sitzen noch eine gute Weile zusammen und schenken uns nach. Ich verzichte aufs Ausspucken und lasse die gereiften Weine auf mich wirken. Dann muss ich leicht widerwillig los zu Tondonia – aber hey, es gibt Schlimmeres.

Phantastisches Wine-Up bei Muga
Bei dieser Verkostung jagte ein Höhepunkt den anderen (Foto: © Spaniens Weinwelten).

Das Tasting bei Tondonia fällt im Umfang kleiner aus, doch es hält ebenfalls Spektakuläres bereit. Anfangs probieren wir die nach ihren Weinlagen benannten Rotweine Cubillo (Jg. 2012), Bosconia Reserva (Jg. 2009) und Tondonia Reserva (Jg. 2009). Bei allen Unterschieden, die sie aufweisen – beispielsweise hat Bosconia mehr Körper und Tondonia einen feineren Säurenerv – mag ich die Frische, Saftigkeit und Finesse dieser Weine ungemein. Ich denke diese drei Eigenschaften sind ein genereller Markenkern der Weine von Viña Tondonia.

Dann holt Elena eine verschmutzte 0,375-Liter-Flasche eines Weißweins aus dem Kühlschrank hinter dem Tresen heraus. Chris, der US-amerikanische Importeur, und ich sollen bitte raten wie alt dieser Wein ist. Hmh, leider finden wir auf dem Etikett keine Angabe zum Jahrgang. Es steht einzig Tondonia 6 Año vorne drauf. Aber was soll das bedeuten, Elena? Zuerst müssen wir schätzen, sagt sie. Dem Zustand der Flasche nach zu urteilen, ist der Wein mindestens vierzig Jahre alt, tippen wir. Er sei noch älter, erwidert Elena und löst das Rätsel auf.

Früher gab Tondonia nicht zwingend den Jahrgang eines Weins an, erzählt Elena. Selbst das Weingut könne den exakten Jahrgang dieser Flasche heute nicht mehr bestimmen, räumt sie ein. Nun aber zeigt Elena auf eine winzig kleine Abfüllnummer (zu klein für meine schlechten Augen), die sich am Seitenrand des Etiketts befindet. Darauf ist hinter ein paar Buchstaben die Zahl 1977 vermerkt. Dieser Weißwein wurde also im Jahr 1977 abgefüllt, klärt uns Elena auf. Die Angabe „6 Año“ bezieht sich wiederum auf die Dauer des Ausbaus in Barriquefässern. Folglich reifte der Wein sechs Jahre, also ab 1971 in diesen kleinen Gebinden.

Da Weine bei Tondonia nach der alkoholischen Gärung nicht immer sofort in Barriques wandern, sondern machmal über längere Zeit in großen Holztanks zwischenlagern, schätzt das Weingut den Jahrgang dieses Weins auf 1968 bis 1970. Wow, sagen Chris und ich sichtlich ergriffen. Elena entkorkt die Flasche behutsam und gießt uns ein.

Der Weißwein aus den Sorten Viura und Malvasia ist top-frisch und blitze-sauber; er weist nicht den geringsten Fehlton auf. Was für eine klare goldgelbe Farbe und was für ein Spannungsbogen vom Antrunk bis zum Abgang! Chris und ich sind aufrichtig beeindruckt von der Balance, dem Grip und der Länge dieses alten Weins. Elena meint, wir könnten die Flasche gerne mit nach draußen nehmen und an einem der Tische im Innenhof genießen. Dazu erhalten wir einen Teller mit Jamón Iberico und Lomo.

Chris hat leider keine Zeit mehr. Er ist bereits spät dran und muss sofort zum nächsten Termin. So habe ich die Flasche für mich allein – schade ums Gespräch, aber na ja, ich kann’s in diesem Fall verschmerzen. Ich sitze also alleine und bei Sonnenschein im Innenhof von Viña Tondonia, mit einer über 50 Jahre alten „Blanco Reserva“ und köstlichem Schinken. Manchmal würde ich die Zeit am liebsten auf ewig anhalten. Aber die verrinnt immer, davon können die Weine in den Kellern von Haro ein Lied singen.

2 Kommentare

  1. Hallo Thomas
    Danke für die wundervolle Beschreibung dieser beiden „Kathedralen“ des Weins. Ich liebe solche alten Keller und irgendwann werde ich dort auch aufkreuzen müssen.
    Das freut mich für Dich : Ein Teller Iberico mit einer Flasche 50 jährigen Weissen aus dem Hause Tondonia, das Paradies für uns Liebhaber.
    Zum schimmligen Keller : Ich denke, dass dies nicht nur Temperatur und Luftfeuchtigkeit positiv beeinflusst, sondern, bei diesem langen Fassausbau, auch dem Wein etwas abgibt.
    Liebe Grüsse aus dem Greyerzerland.
    Daniel

    1. Hallo Daniel,
      Danke für deinen Kommentar. Bestimmt hat das spezifische Mikroklima dieser Keller auch einen direkten Einfluss auf den Wein, da hast du gewiss recht.
      Viele Grüße an dich!
      Thomas

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