Vergessen Sie die Punkte

Ausschnitt Lidl-Broschüre

Punkte sind ein immer wichtigeres Instrument, häufig sogar alleiniger Bestandteil des Weinmarketings und -vertriebs. Aus eigener Erfahrung und aus meinem persönlichen Umfeld weiß ich, dass die Anzahl der Punkte, die ein Wein von diversen Kritikern erhält, einen großen Einfluss auf das Kaufverhalten hat. In diesem Artikel befasse ich mich mit dem Unsinn der populären Punktemethode aus Sicht des Endkonsumenten.

Anlass dafür ist eine Marketing- und Vertriebsaktion der Supermarktkette Lidl, deren Kaufhallen es in Spanien weit verbreitet gibt. Analog zu Deutschland gibt sich auch der spanische Lidl große Mühe mit dem Thema Wein zu punkten. So lag im September eine gut gestaltete Broschüre der landesweiten Tageszeitung El País bei. Der Discounter stellt darin aus seinem Sortiment 42 Weine und Schaumweine aus 19 spanischen Anbaugebieten in der Preisklasse von 1,99 bis 24,99 Euro vor. So weit, so gewöhnlich.

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Cover und Backcover der Lidl-Broschüre vom September 2016

Spaniens bekanntester Weinkritiker als Gewährsmann für Lidls Weine
Das Gesicht der Lidl-Broschüre ist niemand geringerer als José Peñin, Herausgeber des wichtigsten spanischen Weinführers Guía Peñin. Der spanische Robert Parker sozusagen, dessen Bewertungen Lidl nun als Gütesiegel für die eigenen Weine heranzieht. Wie Robert Parker – dem bis heute weltweit einflussreichsten Weinkritiker – bewertet auch José Peñin nach dem 100-Punkte-Schema. Wie Parker engagiert auch Peñin ein mehrköpfiges Team, das nach eigenen Aussagen 11.200 Weine jährlich verkostet. Im Gegensatz zu Parker erfolgt bei Peñin die Degustation allerdings nicht blind, sondern mit sichtbarem Etikett.

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Eine Innenseite, die José Peñin zeigt und die 100-Punkte-Skala erläutert.

Wenig überraschend schneiden alle in der Broschüre aufgeführten Weine bei José Peñin hervorragend ab. Preis-Leistungs-Könige sind ein roter Cuvée aus La Mancha für 2,99 Euro, der mit 90 Punkten fast schon geadelt wird sowie ein Garnacha aus Navarra für 1,99 Euro, der immer noch erstaunlich gute 86 Punkte für einen Wein seiner Preisklasse erhält. Mit 95 Punkten am besten unter allen Weinen bewertet, ist ein Tempranillo (mit geringem Anteil Cabernet Sauvignon) aus dem Ribera del Duero, der für nicht mehr ganz so günstige 24,99 Euro zu haben ist.

Vier Kriterien ergeben die Gesamtnote
An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht zu erläutern, wie die 100-Punkte-Bewertung funktioniert und was die Zahlen konkret bedeuten. Ich gehe davon aus, dass nicht jeder Leser genau damit vertraut ist. Also nur ganz kurz: Im Grunde besteht jede Weinbeurteilung aus vier Kategorien: Aussehen, Geruch, Geschmack und Gesamteindruck. Beim 100-Punkte-Schema nach Robert Parker, das auch Peñin übernommen hat, erhält jeder Wein 50 Basispunkte. Die hat er schon mal sicher. Maximal 5 Punkte gibt es zudem für das Aussehen des Weins, maximal 15 Punkte können für seinen Geruch vergeben werden, maximal 20 Punkte für den Geschmack und maximale 10 Punkte für den Gesamteindruck. Ein Wein, der in jeder Kategorie die höchste Punktzahl erreicht, kommt somit auf 100 Punkte. Übersetzt man nun die Zahlen in Buchstaben lautet das bei Peñin so:
80-84 Punkte = guter Wein
85-89 Punkte = sehr guter Wein
90-94 Punkte = exzellenter Wein
95-100 Punkte = außergewöhnlicher Wein

Verbreitet ist auch (noch) das 20-Punkte-System, das ebenfalls nach den vier genannten Kriterien bewertet und zum Beispiel von Weinwisser angewendet wird. Dies aber nur am Rande, ohne dass ich an dieser Stelle näher darauf eingehe.

Übrigens fuhr mein 82-jähriger Schwiegervater – der als treuer El-País-Leser das Heftchen in die Hand bekam – gleich zu Lidl, um sich mit Weinen einzudecken. Andere waren aber schneller als er und viele der hochbewerteten, zumeist günstigen Weine bereits leergekauft. Immerhin konnte er noch vier Flaschen von dem 2,99-Euro-Wein mit 90 Punkten ergattern (ab einem Einkauf dieser Menge gab es 15% Preisnachlass). Im Glas zeigte sich ein ordentlicher, durchaus guter Trinkwein. Viel Frucht (dunkle Beeren), jedoch ohne Finesse und Komplexität, relativ eintönig und flach und weit davon entfernt, dass man ihn als „exzellent“ bezeichnen könnte. Diese Aussage kann ich – zwar ohne Sommelierausbildung, aber was Weine betrifft mit einem gewissen sensorischen Erfahrungsschatz ausgestattet – treffen.

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Innenseite rechts: Der Wein Oristan (2,99 Euro) wird mit 90 Punkten bewertet.

Da Herr Peñin und seine Mitarbeiter zweifellos sehr viel mehr über Wein wissen als ich, stellt sich für mich die Frage wie eine solche Bewertung zustande kommt. Haben Herr Peñin und sein Team einen völlig anderen Weingeschmack oder eine gänzlich andere Vorstellung von einem exzellenten Wein? Was mich im Folgenden zu einer grundsätzlichen Kritik an der Punktemethode bringt.

Zu viele Anbieter, zu wenig Transparenz auf dem Punktemarkt
Das Argument der Befürworter eines Punktesystems ist oftmals, dass die Welt der Weine immer vielfältiger und unübersichtlicher wird. Über das leicht nachvollziehbare Punkte-Ranking erhalte der Weinkonsument eine Orientierung bzw. wichtige Empfehlungen für seinen Einkauf. Dieses Argument kann ich schwer gelten lassen, denn es gibt Filter und Vorsortierer bereits in Form von Weinhändlern.

Vielmehr verhält es sich so, dass nicht nur die Welt der Weine immer unübersichtlicher wird, sondern auch die Punktevergaben selbst. Wer sich genauer mit den Punkten und den dahinter stehenden Personen bzw. Teams befasst, kommt nicht umher, verwirrt zu sein. Denn es gibt schlichtweg zu viele Anbieter auf dem Markt, die vom Weinmarketing – je nachdem wie es passt – zitiert und als Referenz herangezogen werden. 95 Parker-Punkte hier, 92 Punkte im Guía Peñin dort, 91 Punkte des Wine Spectator an jener Stelle, 94 Falstaff-Punkte wiederum anderswo. Oder dürfen es 90 Punkte im Gault-Millau sein? Und das ist nur die Spitze, es gibt viele weitere Experten(teams), die ebenfalls nach der 100-Punkte-Skala bewerten – dabei aber uneinheitlich streng vorgehen und eben auch über einen ganz eigenen Geschmack und eine subjektive Vorstellung von einem guten bzw. außergewöhnlichen Wein verfügen.

Dies in Betracht gezogen bedeutet: Wer sich nicht genau mit den hinter den Weinbewertungen stehenden Personen (Teams) sowie deren Weinphilosophien und Vergabekriterien befasst – und das macht selbst die große Mehrheit der überdurchschnittlich weininteressierten Konsumenten nicht – der sollte auf Punkte am besten gar nichts geben. Für Spekulanten, die Wein als Wertanlage verstehen, ist das Punkte-Urteil angesehener Kritiker durchaus sinnvoll und bedeutend. Für den gewöhnlichen Weingenießer sicher nicht. Es ist aber eben dieser „normale“ Weintrinker, der zunehmend über das Punkte-Marketing zum Kauf selbst billiger Weine animiert wird.

Was wir heute ebenfalls zum Teil erleben, ist, dass sich manche Personen offensiv als Weinkritiker vermarkten und mit dem gleichen Nachdruck als Weinhändler auftreten. Sprich, sie bewerten Weine mit (sehr) hoher Punktzahl und verkaufen sie gleichzeitig im eigenen Online-Shop. Möglicherweise ein schlaues Geschäftsmodell, aber ein derartiges Vorgehen untergräbt die Glaubwürdigkeit einer seriösen Weinkritik und der Punktesysteme insgesamt. Für den Endverbraucher bedeutet dies, dass Vorsicht geboten ist.

Punkte sagen nichts über den Charakter eines Weins aus
Bei tiefergehender Betrachtung ist die verständlich und objektiv daherkommende Punktemethode mitunter irreführend: die einen bewerten streng, die anderen großzügiger; die einen bevorzugen feinstrukturierte, die anderen wiederum fruchtbetonte Weine; beim einen ist am Tag der Degustation ein Schnupfen im Anflug, der andere Tester ist sensorisch voll auf der Höhe.
Darüber hinaus sagen Punkte wenig bis nichts über den Charakter eines Weins aus. Wonach riecht ein 90-Punkte-Wein? Wonach schmeckt er? Hat er ein feines Säurespiel? Entfaltet er einen Schmelz auf der Zunge? Ist es ein weicher, runder Wein oder einer mit Kanten, der den Gaumen herausfordert? Verändert er sich im Glas und offenbart stets neue Nuancen? Fragen, die Punkte nicht beantworten.
Und nicht zuletzt hat Wein viel mit der Philosophie und Leidenschaft des Weinmachers zu tun – eine Art von Tiefgründigkeit, der schnöde Zahlen nicht ansatzweise gerecht werden können. Möglicherweise schmeckt Ihnen demnach ein 82 Punkte-Wein bei Peñin besser als einer mit 95 Parker-Punkten. Es gibt hierzu keine objektiven Maßstäbe. Hören Sie lieber auf Ihren Weinhändler um die Ecke. Erzählen Sie ihm, was Sie heute Abend kochen und bitten Sie ihn um eine Weinempfehlung dazu. Ich mache damit fast nur gute Erfahrungen. Nichts ist besser als über Wein zu sprechen.

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