„Eine schöne Arbeit hast du“, sagte der Mann auf der Wache in einem durchaus freundlichen Tonfall. Ich hatte ihm ein Papier vorgelegt, in dem steht, dass ich im Weinsektor tätig bin und wollte wissen, ob ich mit diesem Schreiben ein Weingut in der benachbarten Provinz Málaga besuchen könnte. Denn ich befinde mich mal wieder in einem Lockdown: Die Gemeinde, in der ich in der Provinz Granada wohne, ist abgesperrt. Ohne triftigen Grund darf niemand rein oder raus. Der Polizist jedoch meinte, dass ich keine Probleme zu erwarten hätte. Um meiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen, dürfte ich schon raus und auch wieder rein.
Ergo machte ich mich vergangene Woche auf die knapp zweistündige Autoreise zum Weingut Bentomiz in der Axarquia, um dessen aktuelle Jahrgänge 2018 und 2019 sowie den kommenden 2020er aus dem Fass zu probieren.
Die Autobahn A-7 in Richtung Málaga war noch leerer als sie es für gewöhnlich an einem Mittwochvormittag eh schon ist. Geradezu gespenstisch fühlte sich die Fahrt durch Orgiva und Algarrobo an. In normalen Zeiten sind die Hauptstraßen in jenen Ortschaften sehr belebt – mit geöffneten Cafés, Bars und Shops und reichlich Laufkundschaft. Dieses Mal sah ich heruntergezogene Schaufensterläden, geschlossene Gastronomie und kaum eine Menschenseele. Ein Stopp für einen Kaffee kam also nicht in Frage, und so traf ich gegen 11:30 Uhr bei Bodegas Bentomiz ein.
Bodegas Bentomiz – das ist das niederländische Paar Clara Verheij und Andre Both. Sie ist Winzerin, er ist Koch und betreibt das zum Weingut gehörende Restaurant. Als sie Mitte der 1990er-Jahre ein Grundstück in der Axarquia erstanden, arbeitete Clara als Sprachlehrerin und Andre als Bauunternehmer. Auf dem damals verwilderten Anwesen zwischen Competa und Sayalonga entdeckten sie verwahrloste alte Rebstöcke, ja sogar einen ganzen Weinberg, den sie rekultivierten, um eigenen Wein zu machen.
An dieser Stelle kürze ich die Geschichte ab: Inzwischen ist Bodegas Bentomiz ein kleines, aber feines Weingut, welches zu den führenden Erzeugern in der D.O. Málaga y Sierras de Málaga zählt. Die natürlichen Süßweine Ariyanas Terruño Pizarroso und Ariyanas Naturalmente Dulce – beide aus Moscatel de Alejandría – sind meiner Meinung nach die Besten ihrer Gattung in ganz Spanien. Sie werden nicht nur von mir geschätzt, sondern erhalten ebenso von der Kritik Höchstbewertungen, beispielsweise bis zu 18,5 Punkte bei Jancis Robinson und kürzlich 97 Punkte in der neuen Ausgabe des Weinführers Guía Vinos Gourmets.
Außerdem keltert Clara (ich nenne sie ab jetzt beim Vornamen, weil ich sie schon oft besucht habe) trockene Weiß-, Rosé- und Rotweine aus den Rebsorten Moscatel, PX, Merlot, Tempranillo und Romé.
Die letztgenannte Rotweintraube Romé dürfte nur wenigen Leserinnen und Lesern geläufig sein. Diese Sorte existiert nur in der Provinz Málaga auf wenigen Hektaren. Bodegas Bentomiz gewinnt aus jener Rebe den Ariyanas Romé Rosado, ein betont mineralischer, staubtrockener Roséwein mit extrem kurzem Maischekontakt. Wir degustieren zuerst die Fassprobe des Jahrgangs 2020 und später den aktuellen 2019er aus der Flasche. In beiden Fällen zeigt sich ein frischer, aromatisch interessanter Wein aus einer raren Sorte. Definitiv kein 08/15 wie so viele andere Rosés, sondern spannend! Übrigens ist dies ein Rosé, den man ein paar Jahre im Keller liegen lassen kann und der dabei an Qualität gewinnt. Nicht alle Roséweine müssen innerhalb eines Jahres getrunken werden, wie das manche sogenannte Experten behaupten.
Natürlich unterhalten wir uns über die gegenwärtige Lage. Mein letzter Besuch bei Clara liegt ein ganzes Jahr zurück. Normalerweise schaue ich bei ihr vier bis fünf Mal im Jahr vorbei, manchmal auch mit Touristengruppen, was 2020 freilich alles flach fiel.
Seit Monaten hört und liest man, dass die Leute in Corona-Zeiten mehr Wein trinken und folglich der Weinabsatz steige. Außenstehende mag das zur Annahme verleiten, es ginge der Branche gut. Dem ist aber nicht so. Den Reibach machen vor allem Discounter, Supermärkte und einige große Online-Shops. Gerade kleinere Weingüter, die keinen großen Namen haben, die außerdem keine Billigware produzieren und deren Weine nicht im Supermarkt stehen, leiden unter der Situation. Hierzu zwei Beispiele:
Als ich im Juli ein Weingut in Katalonien besuchte, füllten sie gerade den neuen Jahrgang ab. Die Inhaberin erzählte, dass sie in den vier Monaten Lockdown nur eine Palette Wein an einen Händler in Barcelona verkauft hätten. Ansonsten tote Hose. Das Weinlager quoll bei einer Produktion von 50.000 Flaschen im Jahr entsprechend über, man konnte sich darin kaum mehr bewegen. Und nun musste auch noch der neu abgefüllte Jahrgang darin verstaut werden – eine Raumsituation, die mich an Busfahrten in Ostafrika erinnerte, als ich dort in den 1990ern für sechs Monate war. Oder an die Metro in Paris.
Auch Bodegas Bentomiz füllt in guten Jahren fast 50.000 Flaschen ab. Dieses Jahr werden es deutlich weniger sein. Clara hat die Produktion bewusst verkleinert. Sie hat einfach noch zu viele Weine auf Lager: Von ihrem großartigen Weißwein PiXel 2019 – eine Cuvée aus PX (90%) und Moscatel – hatte ein spanischer Distributor alle verfügbaren Flaschen geordert, insgesamt elf Paletten. Er wollte den Wein exklusiv für sich und seine Kunden auf dem spanischen Markt haben. Dann kamen im März Corona und der brutal strenge Lockdown, und die Bestellung wurde auf eine Palette reduziert. Clara erwähnt das eher beiläufig in einem Nebensatz. Sie klagt nicht, es bringt ja auch nichts. Stattdessen versuchen wir alle das Beste aus der Lage zu machen und nach vorne zu blicken.
Wenn wir also in die Zukunft schauen, dann wird die Bentomiz-Familie im Jahr 2021 um einen Rotwein wachsen: Rayya 2020 ist ein sortenreiner Tempranillo, dessen Trauben Clara aus der Serrania de Ronda und der Provinz Cordoba bezieht. Sie selbst hat die Sorte nicht im Anbau. Bei der Fassprobe erzählt Clara, dass sie einen fruchtbetonten Rotwein im Portfolio haben will, der nicht lange reifen muss, sondern bereits jung getrunken werden kann. Quasi als Pendant zu ihrem Ariyanas Tinto, den sie auf der Maische vergärt und in Barriquefässern ausbaut.
Für Rayya wählt Clara stattdessen das Verfahren der Kohlensäuremaischung (auch als intrazelluläre Gärung bzw. Ganztraubengärung bezeichnet). Hierzu füllt Clara den Gärbehälter mit ganzen, nicht abgebeerten Trauben. Das Behältnis wird dann verschlossen und durch den Einsatz von CO2-Gas sauerstofffrei gehalten. Ohne Einwirkung von Hefen setzt nun in den Beeren eine Gärung ein. Zwei bis drei Volumenprozent Alkohol entstehen auf diese Weise in den Beeren. Nach einigen Tagen presst Clara die Trauben und vergärt den Saft zu Ende.
Im Vergleich zur klassischen Maischegärung ergibt jene Kohlensäuremaischung fruchtigere und weniger tanninreiche Weine. Und ein ebensolcher ist Rayya 2020 bereits im jungen Stadium: sehr fruchtig und saftig. Darüber hinaus baut Clara diesen Rotwein einzig im Stahltank aus. Folglich handelt es sich um keinen besonders komplexen Wein, aber um einen der Spaß macht und süffig ist. Hier steht die Primärfrucht ganz klar im Vordergrund, während sich die Struktur hinten anstellt.
Claras Königsdisziplin – ich hatte es vorangehend gesagt – sind die natürlichen Süßweine aus der Moscatel-Traube. Ihr Ariyanas Naturalmente Dulce 2018 wurde jüngst von der Organisation „Sabor Málaga“ als bester Süßwein der D.O. Málaga ausgezeichnet. Der natursüße Wein wird aus in der Sonne getrockneten Trauben gewonnen und nicht mit Alkohol gespritet. Im Ergebnis ist das Gewächs eine einzige Wonne – so frisch, so hocharomatisch und komplex. Zu diesem Süßwein (ca. 140 g/l RZ) benötige ich kein Dessert, er ist das Dessert selbst. Wenngleich ich einen pikanten Blauschimmelkäse oder Schokoladenkuchen dazu ebenfalls nicht ausschlagen würde.
Während wir im Restaurantbereich die aktuellen Jahrgänge 2018 und 2019 verkosten, setzt sich Andre Both zu uns. Er macht eine Pause von der Arbeit im Weinberg. Da Clara und Andre keine Herbizide oder sonstige Pflanzenschutzmittel einsetzen, wuchert das Unkraut, und Andre versucht dem Herr zu werden. Ein Kampf, der nie aufhört.
Eigentlich betreibt Andre das Restaurant im Weingut. Seine Präzision und Kreativität bei der Zubereitung der Speisen ist beeindruckend, und die Gesamtqualität des Essens ist derart hoch, dass sich so manche Sternejungs ganz warm anziehen dürfen.
Natürlich ist das Restaurant – wie schon ein Großteil des Jahres über – geschlossen. An Besucher, die sonst von Mittwoch bis Sonntag zu Führungen kommen, ist ebenfalls nicht zu denken. Clara, Andre und ich sprechen nicht über diese Dinge und ich frage sie auch nicht danach. Ich kann mir vorstellen, welche Verluste damit verbunden sind.
Stattdessen unterhalten wir uns über die Alpujarra, also meine Gegend in der Provinz Granada und über den dortigen Winzer Manuel Valenzuela von Barranco Oscuro, den Clara und Andre wie ich kennen und schätzen. Es fühlt sich einfach gut an, sich nach einem Jahr wieder zu sehen. Und zugleich mutet es seltsam an. Als wir beim letzten Mal Andre’s selbstgebrannten Genever tranken, wirkte das bevorstehende Jahr 2020 allein aufgrund der Zahl irgendwie groß und besonders. Und nun finden wir uns in einer völlig surrealen Situation wieder, die unser Leben komplett auf den Kopf stellt: Keine Restaurants, kein Weintourismus, keine Weinmessen, keine Tastings (außer online), keine Branchentreffs und kaum Begegnungen. Was uns vorerst bleibt, ist viel guter Wein und die Hoffnung auf einen ebenso guten Impfstoff.