Ist Wein eine Droge?

Titel-Wein-Droge

Am 14. Dezember 2020 strahlte die wichtigste spanische Nachrichtensendung – Telediario 1 – einen Bericht aus, welcher in Spaniens Weinszene für heftige Reaktionen sorgte. In dem 2-minütigen Beitrag wird Wein als „die am meisten konsumierte legale Droge in Spanien“ bezeichnet. Der kurze Report bezog sich auf eine wissenschaftliche Studie zum Drogenkonsum in Spanien und nannte diesbezüglich Zahlen zu Alkohol, Tabak und Marihuana. Als ich den Bericht im Fernsehen sah, hatte ich nicht das Gefühl es würden spektakulär neue Erkenntnisse verbreitet, sondern eher Altbekanntes. 

Das Wort Droge in Verbindung mit Wein stieß einigen Leuten in der Weinbranche jedoch ziemlich übel auf. Bereits am folgenden Tag veröffentlichten der spanische Önologen-Verband (FEAE) sowie die Vereinigung spanischer Weinautoren und Weinjournalisten (AEPEV) längere Protestnoten, in denen sie den öffentlich-rechtlichen Sender RTVE auffordern, die Aussage Wein sei eine Droge zu widerrufen bzw. zu korrigieren.

Ist Wein Droge, Lebensmittel oder Kulturgut?

In den Statements heben die genannten Verbände unter anderem hervor, dass Wein keine Droge, sondern „ein Jahrtausende altes Kulturgut“ auf der iberischen Halbinsel sei. Diese Aussage ist unbestritten: Wein wird seit über 3000 Jahren in Spanien gekeltert, zuerst im heutigen Sherry-Gebiet. Bereits unter den Römern breitete sich der Weinbau praktisch überall auf der iberischen Halbinsel aus. Gegenwärtig ist Spanien mit fast einer Million Hektar Rebfläche das größte Weinland der Welt.

In ihren Schreiben halten FEAE und AEPEV darüber hinaus fest, dass Wein ein integraler „Bestandteil der gesunden Mittelmeerdiät“ sei. Diesbezüglich führen sie Artikel 2 des Gesetzes 24/2003 auf, in dem Wein als ein „natürliches Lebensmittel“ eingestuft wird. Die Protestschreiben argumentieren folglich dahingehend, dass die Aussage „Wein ist eine (legale) Droge“ zum einen inhaltlich falsch ist und zum anderen geltendes spanisches Recht missachtet, da dieses Wein als Lebensmittel ausweist.

Zweifellos gehört Wein zur mediterranen Esskultur – zumindest gilt das für klassische europäische Mittelmeerregionen in Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien. Die Küche des Mittelmeers besteht traditionell aus Produkten wie Olivenöl, Oliven, Knoblauch, Auberginen, Tomaten, Paprika, Mandeln, Feigen, Fisch und einige mehr. Wein ist das traditionelle „Pairing“ zu diesen Lebensmitteln bzw. den Gerichten daraus. Eine lange Tradition bedeutet aber nicht automatisch, dass ein Produkt deswegen unbedenklich ist.

Inwiefern Wein eine Droge, Lebensmittel oder Kulturgut, gesund oder ungesund ist, hängt – neben der Art und Weise wie man es konsumiert – gewiss auch von der Perspektive ab. Je nachdem, ob man einen medizinischen oder philosophischen Blick auf das Thema wirft, wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Nüchtern“ betrachtet besteht Wein zu 10 bis 20 Prozent aus Alkohol. Ergo wäre es vernünftig die Finger davon zu lassen. Andererseits: Wo kämen wir hin, wenn wir immer nur vernünftig agierten? Hätte ich in meinem Leben stets rational gehandelt, dann würde ich heute keinen Weinblog betreiben. Ich hätte nie meine Frau kennengelernt und meine zwei wunderbaren Kinder wären nie geboren. Ich jedenfalls pfeife auf die Vernunft! Ständige Vernunft engt uns ein, sie ist der Feind von Fantasie, Mut und Passion.

Warum die Aufregung in der Weinszene? Weil Sprache unser Verständnis von Realität bildet.

Was mich gedanklich viel länger beschäftigt hat als der Nachrichtenbericht selbst, waren die teils wütenden Reaktionen darauf – auch von Personen, die ich kenne. Nur weil Wein als „legale Droge“ bezeichnet wird, muss man sich doch nicht gleich so ärgern, dachte ich zuerst. Wieso fühlen sich die Leute so angegriffen?, fragte ich mich. Hat es vielleicht mit einer neuen Empfindsamkeit zu tun? Manche Menschen regen sich heutzutage über – Verzeihung – jeden Scheiß auf und tun ihren Ärger sogleich über Soziale Medien kund. Diesen Gedanken habe ich allerdings rasch verworfen, denn es waren ja nicht nur einzelne Personen, sondern auch organisierte Verbände, die hier lautstark Einspruch erhoben. 

Soziologen würden wohl sagen, dass es sich hierbei um einen „gesellschaftlichen Diskurs“ handelt, in dem „Realitäten und Lebensweisen verhandelt werden“. Ich kann diesen Satz so formulieren, weil ich früher ein zur Soziologie verwandtes Fach studiert habe. Aber was genau bedeutet das? 

Zweifellos gibt es einen wachsenden politischen und gesellschaftlichen Druck ungesunde Lebensweisen zu sanktionieren. Das Rauchverbot in Gaststätten, öffentlichen Gebäuden, etc. ist diesbezüglich ein Paradebeispiel: Jahrelang wurde darüber hart gerungen und heftig gestritten. In den 2000er-Jahren wurde es schließlich eingeführt, und inzwischen haben es alle akzeptiert. In vielen Situationen gilt rauchen heute als asozial.

Womöglich sorgen sich manche Leute in der Weinbranche, dass es dem Alkohol bzw. dem Wein einmal ähnlich wie dem Tabak ergeht: Werbeverbote, Verzehrverbote im öffentlichen Raum und eine generelle soziale Ächtung des Konsums, weil trinken aus rein medizinischer Sicht ungesund ist. 

Vom Tabak-Szenario sind wir heute zwar noch ein gutes Stück weit entfernt, aber wer weiß schon, was in zwanzig Jahren ist. So gesehen ist es natürlich überhaupt nicht egal, ob Wein als Droge oder als Lebensmittel oder als Kulturgut bezeichnet wird. Und insofern kann ich die Aufregung in der Branche verstehen, wenn in der „spanischen Tagesschau“ vor einem Millionenpublikum vom Wein als Droge die Rede ist. Unser Sprachgebrauch ist schließlich ein ganz entscheidender Faktor, wie wir die Welt verstehen und wahrnehmen.

In der heutigen Gesellschaft wird Enthaltsamkeit als erstrebenswerte Qualität angesehen.

Schon heute gibt es aufgrund medizinischer Erkenntnisse und gesellschaftlicher Zwänge die Tendenz den persönlichen Weinkonsum stark einzuschränken. Mein Bekanntenkreis besteht teils aus Leuten, die sich ein Glas Wein am Tag „gönnen“. Manchmal können sie der Versuchung nicht widerstehen und sie „genehmigen“ sich ein zweites Glas. Weil das zweite Glas am Tag vermeintlich ungesund ist (bzw. laut einigen medizinischen Dossiers bereits Alkoholismus darstellt), haben sie danach ein schlechtes Gewissen. Sie fühlen sich schuldig, weil sie angeblich unvernünftig gehandelt haben und ihrem Verlangen nicht widerstehen konnten. Sobald du dich schuldig fühlst, das ist meine Meinung, hast du ein Problem. Von Weingenuss kann dann keine Rede mehr sein.

Ich muss – während ich diese Zeilen schreibe – zwangsläufig an den großen deutschen Soziologen Norbert Elias und dessen Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ denken. Elias versteht Gesellschaft als eine Konstellation voneinander abhängiger Menschen. Dadurch, dass die Menschen miteinander agieren und in ihrem Tun voneinander abhängig sind, beeinflussen sie gegenseitig ihre Psyche. Moderne, komplex strukturierte Gesellschaften – argumentiert Elias weiter – durchlaufen dabei einen fortwährenden Zivilisationsprozess. Hierbei wird das Individuum zur Selbstkontrolle angehalten. Es geht darum, spontane Affekte und momentane Neigungen zu unterdrücken und diese längerfristigen Zielen unterzuordnen.

Vor allem in der bürgerlichen Mitte erleben wir seit Längerem eine Diskussion, die Gesundheit als langfristiges Ziel ausgibt und die Alkoholkonsum als spontanen Affekt, als einen Mangel an Selbstkontrolle und Selbstdisziplin darstellt. Die Lust auf Wein wird als Sucht ausgelegt, als schlechte Charaktereigenschaft. Weingenuss gilt als schädlich, sobald dieser minimale Grenzwerte überschreitet. Wer mehr als fünf Gläser pro Woche trinkt, wird bereits als Risikoperson eingestuft. In allen relevanten Medien finden sich Artikel, welche in diese Richtung argumentieren. Googeln Sie einfach das Wort „Alkoholkonsum“ und Sie werden auf zahlreiche Beiträge stoßen. 

Die meisten dieser Artikel handeln im Kern davon, man möge sich bitte maximal ein Glas Wein am Abend gönnen und sich zwei Tage die Woche ganz „in Enthaltsamkeit üben“ (O-Ton). Weinliebhaber werden im Sinne ihrer langfristigen Gesundheit dazu angehalten ihre spontanen Neigungen und Begierden zu unterdrücken – genau so wie es Norbert Elias beschreibt. Dieser Diskurs wirkt sich auf die Psyche aus: Wem die Selbstbeherrschung bzw. Enthaltsamkeit nicht gelingt, der soll zumindest ein schlechtes Gewissen beim „übermäßigen“ Weinkonsum haben. So wie meine Bekannten, die ich zuvor beispielhaft genannt habe.

Es geht zum Glück auch anders: Während ich an diesem Artikel schrieb, lief mir mein Schwiegervater über den Weg. Er ist bald 86 Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit. Ich fragte ihn, warum er jeden Tag zwei bis drei Gläser Wein trinkt. „Weil es mir Freude macht“, antwortete er lapidar. Daraufhin fragte ich ihn, weshalb er nicht nur ein Glas Wein am Tag trinkt, dies wäre doch viel gesünder. „Es macht keinen Spass nach einem Glas aufzuhören. Das würde ich nicht genießen“, sagte er kurz und knapp. Ich glaube, mein Schwiegervater weiß, dass es auf Dauer ungesünder ist, stets das eigene Verlangen zu zügeln und sich immer an medizinische Ratschläge zu halten.

Wein als Wirtschaftsfaktor – It’s the economy, stupid!

Mit soziologischen und philosophischen Betrachtungen überzeugt man heutzutage fast Niemanden mehr – dem bin ich mir bewusst. „It’s the economy, stupid!“

Spanischer Önologen-Verband sowie die Vereinigung spanischer Weinautoren und Weinjournalisten haben es in ihren Protestnoten deshalb nicht versäumt, die Öffentlichkeit auf die wirtschaftliche Bedeutung des Weinbaus hinzuweisen. Ich gebe die Zahlen gerne weiter, weil sie die Dimension des Weinlands verdeutlichen: 

In Spanien gibt es 561.000 Weinbauern und weitere 428.000 Beschäftigte im Weinsektor. Das sind knapp eine Million Menschen, für die Wein eine Erwerbsquelle darstellt. Zum Vergleich: Die deutsche Automobilindustrie kommt auf 835.000 Beschäftigte. 

Ferner begrüßt Spanien jährlich über drei Millionen ausländische Weintouristen, die nicht nur Wein vor Ort konsumieren, sondern ebenfalls Restaurants und Museen besuchen und in Hotels übernachten. Dies sind die Vor-Corona-Zahlen.

Corona-Krise und US-amerikanische Strafzölle würden den Weinsektor schon genug unter Druck setzen, schreibt der spanische Önologen-Verband in seinem Statement. Wenn öffentlich-rechtliche Medien nun auch noch Wein als Droge bezeichnen würden, dann schade dies dem Image des spanischen Weins und der spanischen Weinwirtschaft, so die abschließende Aussage. 

Sobald Branchenverbände mit Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen argumentieren, weiß man, dass sie es ernst meinen. Der Sender RVTE hat die Aussage „Wein gleich Droge“ meines Wissens nach trotzdem nicht widerrufen – es gibt ja auch noch die Presse- und Meinungsfreiheit. Die Diskussion, ob Wein nun Droge, Lebensmittel oder Kulturgut ist, wird uns in den kommenden Jahr(zehnt)en gewiss weiter beschäftigen und möglicherweise an Schärfe zunehmen.

Ich wünsche Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – viel Gesundheit im neuen Jahr und außerdem viele gute Momente mit Wein! Ich hoffe bzw. bin davon überzeugt, dass sich das nicht gegenseitig ausschließt.

2 Kommentare

  1. Vielen Dank fuer die immer so sehr ausfuehrlichen Berichte, Dokumentationen und die grossartigen Informationen dazu, die -zumindest mir und meiner Familie- viele schoene Erinnerungen auf die Zunge und in’s Hirn rufen.
    Wuensche Ihnen eine ganz schoene Zeit und hoffentlich kommt die Zeit des Reisen duerfen bald ein mal wieder.
    Salud in diesem Sinne,

    Viele Gruesse,
    Klaus von Horsten

    1. Hallo Herr von Horsten,

      vielen Dank für den netten Kommentar. So etwas freut mich natürlich sehr zu hören, wenn Ihnen die Blogs gefallen!

      Ihnen ebenfalls alles Gute und viel Gesundheit in dieser Zeit.

      Herzliche Grüße
      Thomas Götz

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