Das Flair der Dörfer — der Aufstieg der ‚Vinos de Pueblo‘

Ortsweine, Poboleda, Priorat

Ortsweine zeugen vom Potenzial und der Vielfalt eines Weingebiets. In Ländern wie Frankreich prägen sie seit Jahrhunderten das Image und die Identität der großen Weinbauregionen. In Spanien ist die Bewegung vergleichsweise jung, aber umso dynamischer. Den folgenden Text verfasste ich zuerst in englischer Sprache für die Website ‚Foods and Wines from Spain‘.


Spanien hat nicht nur die größte Weinbaufläche der Welt, sondern ist auch eines der geografisch vielfältigsten Länder. Reben wachsen an der Atlantik- und Mittelmeerküste, auf Hochebenen, Bergen und Inseln, in wüstenähnlichen Gebieten und in üppig grünen Regionen, in denen doppelt so viel Regen fällt wie in London. Hinzu kommt eine große Vielfalt an Böden. Mit anderen Worten: Spanien ist ein Paradies für Terroir-Weine, bei denen es darum geht, eine bestimmte Landschaft in die Flasche zu bringen.

Es mag daher verwundern, dass die meisten Konsumenten mit Spanien in erster Linie Weine verbinden, deren Stil durch die Art der Herstellung definiert wird, allen voran die Reifekategorien Crianza, Reserva und Gran Reserva. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die spanischen Erzeuger in der Vergangenheit kein Interesse daran zeigten, kleinräumige Terroirs zum Ausdruck zu bringen.

In den letzten Jahren hat in Spanien jedoch eine Revolution stattgefunden, bei der eine neue Winzergeneration den Fokus vom Keller auf den Weinberg und die spezifische Herkunft der Trauben verlagert hat. Eine der aufregendsten Entwicklungen in dieser Hinsicht ist der Aufstieg der Ortsweine, die auf Spanisch als „Vinos de Pueblo“ oder „Vinos de Villa“ bezeichnet werden. Diese Weine stammen aus verschiedenen Weinbergen innerhalb einer Gemeinde. Der übergeordnete Sinn besteht darin, den einzigartigen Charakter der jeweiligen Ortschaft zu zeigen, der sich beispielsweise aus dem Mikroklima, den Böden und den traditionell angebauten Rebsorten ergibt.

Die Nuancen der Rioja Alavesa

„Wenn man Terroir und Vielfalt ausdrücken will, dann sind Ortsweine der erste Schritt“, sagt der deutsch-spanische Master of Wine Andreas Kubach von Bodegas Bideona. Kubach und sein Team produzieren in der Rioja Alavesa sieben Ortsweine, allesamt Rotweine, die sie in einer Kombination aus Edelstahl, Beton und Eiche vinifizieren. „Die Unterschiede rühren nicht von der Weinbereitung her“, sagt Kubach. Vielmehr sorgt das Terroir für die mitunter sehr deutlichen Nuancen zwischen den Weinen.

Die Persönlichkeit der Dorfweine der Rioja Alavesa ergibt sich für Andreas Kubach aus der Höhenlage der Weinberge sowie ihrer Nähe zum Fluss Ebro und zur Sierra Cantabria. Beispielsweise stammt der Ortswein aus Laguardia, genannt „L4GD4“, aus mehreren Weinbergen in der Nähe des Ebro auf einer Höhe von etwa 400 Metern. Im Flusstal ist der mediterrane Einfluss stärker und „dieser Wein fällt immer etwas eleganter, floraler und zugänglicher aus“, sagt Kubach.

Weinberge, Bideona, Laguardia, Ortsweine
Weinberge von Bodegas Bideona in Laguardia

Den größten Kontrast bilden die Parzellen in der Gemeinde Leza. Obwohl der Ort nur wenige Kilometer von Laguardia entfernt ist, werden die Trauben hier bis zu sechs Wochen später gelesen. Der Grund: Die Weinberge liegen am Fuße der Sierra Cantabria auf rund 650 Metern Höhe, wo ein raueres Klima herrscht und die Tempranillo-Trauben eine dickere Schale entwickeln. „Das Ergebnis ist ein Wein mit mehr Dichte, kräftigeren Tanninen und einem dunkleren Fruchtprofil“, sagt Kubach. Weitere interessante Erzeuger, die mit ihren Weinen den unverwechselbaren Charakter der Rioja-Dörfer ausloten, sind etwa Bodegas Tierra in Labastida, Bodegas Moraza in San Vicente de la Sonsierra und Bodegas Bhilar in Elvillar.

Das Priorat als Vorreiter

Ortsweine zeigen das Potenzial und die Vielfalt eines Weingebiets auf. In Ländern wie Frankreich prägen sie seit Jahrhunderten die Identität berühmter Weinregionen. In Spanien ist die Bewegung vergleichsweise jung, aber auf dem Vormarsch. So führte die DOQ Priorat im Jahr 2007 als erste spanische Appellation eine Kategorie für Ortsweine (katalanisch: Vi de Vila) ein, die zehn Jahre später Teil einer Lagenklassifizierung nach burgundischem Vorbild wurde.

In Bellmunt del Priorat keltert die biodynamisch arbeitende Winzerin Marta Rovira von Bodegas Mas d’en Gil einen roten und einen weißen Ortswein: „Bellmunt ist geografisch exponiert und eines der windigsten Dörfer im Priorat. Die Mittelmeer- und Nordostwinde, die wir hier abbekommen, üben einen starken Einfluss auf den Weinbau aus“, erklärt Rovira. „Das macht unsere Gegend ideal für Garnacha, die diese erfrischenden Brisen besonders mag.“

Weinberge, Mas d'en Gil, Priorat
Weinberge von Mas d’en Gil in Bellmunt, Priorat. © Rafael López-Monné

Entsprechend besteht der rote Ortswein von Mas d’en Gil zu 70 Prozent aus Garnacha, die Trauben kommen aus acht Weinbergen. „Die typischen Bellmunt-Weine zeichnen sich durch florale Aromen aus“, sagt Rovira, „vor allem im Vergleich zu denen aus Dörfern wie Porrera, wo die Sorte Cariñena dominiert, die zumeist tanninhaltigere und konzentriertere Weine ergibt.“ Auch bei den legendären Schieferböden des Priorats sieht Marta Rovira feine Unterschiede: Der Schiefer in Bellmunt sei eher rotbraun und weniger schwarz als zum Beispiel in Porrera. Dieser hellere Schiefer speichert und reflektiert die Tageshitze weniger, was sich auf den Reifeprozess der Trauben auswirkt.

Bierzo, Gredos, überall – es gibt noch viel zu entdecken

Wie das Priorat hat auch die DO Bierzo eine Klassifizierung nach burgundischem Vorbild eingeführt. In der vom Atlantik beeinflussten Region bewirtschaftet José Antonio Garcia 24 Hektar, verteilt auf 165 Plots, mit einem Durchschnittsalter der Reben von 80 Jahren. Es gibt wohl kein Gebiet in Europa mit einem höheren Anteil alter Reben: Laut Jancis Robinson sind 80 Prozent der Rebstöcke im Bierzo älter als 45 Jahre.

Die beiden Ortsweine von José Antonio Garcia, Valtuille de Abajo und Corullón, stammen jeweils aus vielen kleinen Parzellen und sind beide ein Verschnitt aus 85 Prozent Mencia und anderen autochthonen Rot- und Weißweinsorten. Die Weinbereitung basiert auf minimalen Eingriffen, denn nichts soll den Charakter des Terroirs überdecken. In Valtuille de Abajo erstrecken sich die Weinberge auf lehmigen und sandigen Böden in einer Höhe von 500 bis 550 Metern. „Dieser Wein ist tendenziell runder, mit süßlicheren Tanninen und Aromen von roten Früchten“, sagt er. 

Weinberg von José Antonio Garcia in Valtuille de Abajo, Ortsweine
Weinberg von José Antonio Garcia in Valtuille de Abajo.

Im Gegensatz dazu bietet das nur fünf Kilometer entfernte Dorf Corullón eine höher gelegene Landschaft, in der die Reben an steilen Berghängen und auf Schieferböden in bis zu 980 Metern Höhe wachsen. „In Corullón ernten wir die Trauben 25 Tage später, und der Wein fällt frischer und erdiger aus“, sagt Garcia. Für ihn ist klar, dass die Unterschiede in der Höhe, der Orographie und der Bodenbeschaffenheit zwischen den benachbarten Dörfern das Profil der Weine entscheidend beeinflussen.

Mit diesem Ansatz ist der Bierzo-Vigneron Teil einer dynamischen Bewegung: Die Erkundung von Mikro-Terroirs wie Ortschaften und Einzellagen und deren Übersetzung in Wein trägt den Geist dessen, was Weinkritiker und Journalisten das „Neue Spanien“ nennen. Dieser Spirit ist im ganzen Land zu finden – in den Gredos-Bergen, entlang der Flüsse Ebro und Duero, auf den Kanarischen Inseln und in Galicien. Die gute Nachricht ist, dass wir bisher nur die Spitze des Eisbergs ‚gekostet‘ haben. Spanien hat nur einen kleinen Teil seines Potenzials gezeigt. Es gibt noch viel mehr zu entdecken …


Titelbild: Poboleda im Priorat. © Thomas Götz, Spaniens Weinwelten

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